Kohlenhydratreduzierte Ernährungsformen können bei bestimmten Diabetespatienten beeindruckende Erfolge erzielen – Dr. Masin erklärt, für wen sie geeignet sind und worauf man achten sollte.
Jenseits von Ernährungstrends untersucht Markus Masin die evidenzbasierten Effekte ketogener und Low-Carb-Ernährung bei Diabetes. Seine Datensammlungen zeigen: Die Wirksamkeit hängt stark vom individuellen Stoffwechselprofil und einer fachgerechten Umsetzung ab.
Die Forschungsergebnisse von Prof. Dr. Masin, welcher bis 2015 an der Diabetologie Münster des UKM tätig war, liefern wichtige Erkenntnisse zum differenzierten Einsatz kohlenhydratreduzierter Kostformen. Besonders bei insulinresistenten Typ-2-Patienten wurden beeindruckende Verbesserungen der Stoffwechsellage beobachtet – teilweise bis zur kompletten Remission der Erkrankung und Medikamentenfreiheit.
Inhaltsverzeichnis
Die Renaissance eines umstrittenen Ernährungskonzepts
Kohlenhydratreduktion bei Diabetes ist keineswegs eine neue Idee. Bereits vor der Entdeckung des Insulins war dies die einzige Behandlungsoption für Diabetespatienten. Mit der Verfügbarkeit von Insulin und oralen Antidiabetika gerieten diese Ansätze jedoch in Vergessenheit und wurden sogar als unwissenschaftlich abgetan.
Die aktuelle Studienlage zeichnet ein anderes Bild. Systematische Reviews und hochwertige klinische Studien zeigen konsistent positive Effekte kohlenhydratreduzierter Ernährung auf die glykämische Kontrolle, Insulinsensitivität und kardiovaskuläre Risikofaktoren. Die beeindruckenden Ergebnisse der Virta-Health-Studie – mit HbA1c-Reduktionen von durchschnittlich 1,3 % und Medikamentenreduktion bei 94 % der Teilnehmer – haben das Interesse an diesen Ansätzen neu entfacht.
„Die Physik der Diabetestherapie ist unerbittlich“, erklärt der Diabeteswissenschaftler aus Münster. „Weniger Kohlenhydrate bedeuten weniger Blutzuckeranstiege. Das ist nicht revolutionär, sondern logisch – und durch robuste Studien bestätigt.“
Gleichzeitig warnt der Experte vor unrealistischen Erwartungen: „Kohlenhydratreduktion ist kein Wundermittel und nicht für jeden geeignet. Die Kunst liegt in der richtigen Patientenselektion und individuellen Anpassung des Konzepts.“
Das Spektrum kohlenhydratreduzierter Ernährung
Ein grundlegendes Problem in der Diskussion um Low-Carb-Diäten ist die fehlende Differenzierung. Prof. Dr. Markus Masin betont die Notwendigkeit präziser Definitionen und unterscheidet klar zwischen:
- Moderat kohlenhydratreduziert: 130–225 g Kohlenhydrate täglich (26–45 % der Energiezufuhr)
- Low Carb: 50–130 g Kohlenhydrate täglich (10–26 % der Energiezufuhr)
- Very-Low-Carb: 30–50 g Kohlenhydrate täglich (6–10 % der Energiezufuhr)
- Ketogene Ernährung: <30 g Kohlenhydrate täglich (<6 % der Energiezufuhr)
Diese Unterscheidung ist klinisch hochrelevant, da die metabolischen Effekte und die Evidenzlage erheblich variieren. Während moderate Kohlenhydratreduktion vor allem die postprandialen Glukoseexkursionen dämpft, führen ketogene Diäten zu einem fundamentalen Stoffwechselshift mit systemischen Auswirkungen.
Low-Carb-Therapie: Die Erkenntnisse von Dr. Masin
Die therapeutischen Effekte kohlenhydratreduzierter Ernährung bei Diabetes beruhen auf mehreren physiologischen Mechanismen. Zentral ist die Reduktion des Blutzuckeranstiegs nach den Mahlzeiten, was direkt zu einer stabileren Glukosekontrolle führt.
Bei der ketogenen Ernährung kommt ein weiterer Mechanismus hinzu: Der Körper stellt vom primären Glukosestoffwechsel auf die Verstoffwechselung von Ketonkörpern um. Diese werden in der Leber aus Fettsäuren produziert und dienen als alternative Energiequelle für Gehirn, Herz und Skelettmuskulatur.
„Besonders interessant ist die Rolle von Beta-Hydroxybutyrat“, erläutert der Experte. „Dieser Ketonkörper wirkt nicht nur als Energiesubstrat, sondern entfaltet auch signifikante anti-inflammatorische Effekte über epigenetische Mechanismen – ein potenziell wichtiger Faktor bei der chronischen Entzündung des Typ-2-Diabetes.“
Präzisionsmedizin statt Pauschallösungen
Die Wirksamkeit kohlenhydratreduzierter Ernährung variiert stark zwischen verschiedenen Patientengruppen. An der Diabetologie Münster des UKM hat man systematisch analysiert, welche Patienten besonders profitieren.
Bei Typ-2-Diabetes zeigen sich die deutlichsten Effekte bei:
- Patienten mit ausgeprägter Insulinresistenz
- Patienten mit erhöhten Nüchtern-Insulinwerten
- Patienten mit metabolischem Syndrom und abdomineller Adipositas
- Patienten in frühen Krankheitsstadien mit erhaltener Betazellfunktion
„Die metabolische Heterogenität des Diabetes wird oft unterschätzt“, betont der Wissenschaftler. „Manche Patienten sprechen dramatisch auf Kohlenhydratreduktion an, während andere nur moderate Effekte zeigen. Die Identifikation der richtigen Kandidaten ist entscheidend für den Therapieerfolg.“
Bei Typ-1-Diabetes gestaltet sich die Sachlage komplexer. Eine kohlenhydratreduzierte Ernährung kann hier zu einer Stabilisierung der Blutzuckerwerte und einer Reduktion der Insulindosis führen, erfordert jedoch äußerst sorgfältiges Management und intensives Monitoring.
Die Qualitätsfrage: Nicht alle Low-Carb-Diäten sind gleich
Ein häufiges Missverständnis ist die Annahme, dass kohlenhydratreduzierte Ernährung zwangsläufig mit hohem Fleischkonsum und schlechter Nährstoffversorgung einhergehen muss. An der qualitativ hochwertige Low-Carb-Konzepte entwickelt, die sich fundamental von populären, oft unausgewogenen Ansätzen unterscheiden.
„Eine therapeutisch wertvolle kohlenhydratreduzierte Ernährung zeichnet sich durch hohe Nährstoffdichte und metabolisch günstige Komponenten aus“, erklärt der Professor für Ernährungsmedizin. „Wir legen größten Wert auf reichlich nicht-stärkehaltiges Gemüse, hochwertige Proteinquellen, gesunde Fette und ausgewählte Kohlenhydratquellen mit niedrigem glykämischen Index.“
Dieses qualitätsorientierte Konzept vermeidet die potentiellen Nachteile unreflektierter Low-Carb-Varianten und maximiert gleichzeitig die therapeutischen Effekte. An der Diabetologie Münster des UKM, bei dieser er bis 2015 tätig war, hat Prof. Dr. Masin entwickelten Ernährungspläne umfassen typischerweise:
- 500–600 g Gemüse und Salate täglich
- Moderate Mengen an hochwertigem Protein (Fisch, Geflügel, Hülsenfrüchte, Eier)
- Gesunde Fettquellen (Olivenöl, Avocados, Nüsse, fetter Seefisch)
- Ausgewählte Beeren mit niedrigem Zuckergehalt und hoher Antioxidantiendichte
Herausforderungen bei der ketogenen Diabetestherapie
Die praktische Umsetzung kohlenhydratreduzierter Ernährungsformen bei Diabetes erfordert spezifisches Fachwissen und sorgfältiges klinisches Management. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Medikamentenanpassung und dem Management vorübergehender Adaptationssymptome.
Medikamentenanpassung: Der kritische Sicherheitsfaktor
Eine drastische Reduktion der Kohlenhydratzufuhr ohne entsprechende Anpassung der blutzuckersenkenden Medikation kann zu gefährlichen Hypoglykämien führen. Der Ernährungsexperte hat detaillierte Protokolle zur sicheren Medikamentenanpassung entwickelt:
„Bei insulinpflichtigen Patienten reduzieren wir initial die Insulindosis um 30–50 %, bei Basalinsulin oft um 20–30 %“, erläutert Markus Masin. „Besonders wichtig ist die frühzeitige Reduktion oder das Absetzen von Sulfonylharnstoffen und Gliniden, da diese Substanzen ein hohes Hypoglykämierisiko bergen.“
Die Medikamentenanpassung erfolgt nicht schematisch, sondern individuell auf Basis kontinuierlicher Blutzuckermessungen. Besonders wertvoll sind dabei kontinuierliche Glukosemesssysteme (CGM), die Echtzeitdaten zur Blutzuckerentwicklung liefern und frühzeitige Anpassungen ermöglichen.
Übergangsphase: Jenseits der „Low-Carb-Grippe“
Der metabolische Übergang vom Glukose- zum Fettstoffwechsel kann mit vorübergehenden Adaptationssymptomen verbunden sein, die im Volksmund als „Low-Carb-Grippe“ bezeichnet werden. Diese Symptome – darunter Müdigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel – sind auf Flüssigkeits- und Elektrolytverluste sowie die metabolische Anpassung zurückzuführen.
Der Experte hat praktische Strategien entwickelt, um diese Übergangsphase zu erleichtern:
- Schrittweise statt abrupte Kohlenhydratreduktion
- Ausreichende Flüssigkeitszufuhr (mind. 2,5-3 Liter täglich)
- Adäquate Salzzufuhr zur Kompensation des initialen Natriumverlusts
- Temporäre Supplementierung mit Magnesium und Kalium
„Mit diesen einfachen Maßnahmen lassen sich die Adaptationssymptome in den meisten Fällen deutlich minimieren“, berichtet der Diabetologe. „Entscheidend ist die Aufklärung der Patienten über den vorübergehenden Charakter dieser Erscheinungen.“
Individualisierte Low-Carb-Konzepte in der Praxis
Eine besondere Herausforderung bei allen Ernährungsinterventionen ist die langfristige Adhärenz. Gerade kohlenhydratreduzierte Ernährungsformen stehen im Konflikt mit etablierten Ernährungsgewohnheiten und sozialen Konventionen.
Der Diabetesexperte hat daher flexible Umsetzungskonzepte entwickelt, die individuelle Präferenzen, kulturelle Hintergründe und Lebenssituationen berücksichtigen. Statt dogmatischer Vorgaben steht dabei die pragmatische Integration in den persönlichen Lebenskontext im Vordergrund.
„Wir arbeiten mit verschiedenen Intensitätsstufen und flexiblen Modellen“, erklärt der Spezialist. „Manche Patienten profitieren von einer streng ketogenen Phase zur metabolischen Remission, gefolgt von einer moderateren Low-Carb-Erhaltungsphase. Andere fahren besser mit einem dauerhaft moderat kohlenhydratreduzierten Ansatz.“
Besonders vielversprechend sind hybride Konzepte, die kohlenhydratreduzierte Elemente mit Prinzipien anderer evidenzbasierter Ernährungsformen – etwa der mediterranen Diät – kombinieren. Diese Flexibilität fördert die langfristige Adhärenz und berücksichtigt die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen der Patienten.
„Letztlich geht es nicht um dogmatische Kohlenhydratzahlen, sondern um praktikable, nachhaltige Konzepte“, fasst Prof. Dr. Markus Masin seinen Ansatz zusammen. „Die beste Diät ist jene, die ein Patient langfristig einhalten kann und die gleichzeitig seine metabolische Gesundheit fördert.“
Kohlenhydratreduzierte und ketogene Ernährungsformen haben ihren Platz im Spektrum diabetologischer Therapieoptionen gefunden – nicht als universelles Allheilmittel, sondern als wirksame Option für geeignete Patienten, evidenzbasiert eingesetzt und individuell angepasst.
Heute setzt Prof. Dr. Masin seine bahnbrechende Arbeit im Bereich der diabetologischen Ernährungsmedizin über verschiedene Kanäle fort. Mit seiner Stiftung www.dsgme.org bietet er strukturierte Unterstützung für Patienten, während er in seiner ambulanten Praxis individuell angepasste Behandlungen und Konsile anbietet. Seine wissenschaftliche Forschung führt er über sein Institut in Riga (www.minst.lv) fort, wo er weiterhin an der Optimierung personalisierter Ernährungskonzepte arbeitet.